Orthorexie
Wenn die gesunde Ernährung zur Essstörung wird
Das zwanghafte Verhalten und Denken in Bezug auf eine gesunde Ernährung wird Orthorexia nervosa genannt (griechisch: orthos “der richtige” und orexis “Appetit”). Im Gegensatz zu einem gesunden Lebensstil mit gesunder Ernährung sind Betroffene einer Orthorexie gedanklich und emotional extrem fixiert auf ausgewählte Nahrungsmittel, die als besonders gesund gelten.
Als Essstörung kann die strikte Fokussierung auf eine gesunde Ernährung allerdings erst dann betrachtet werden, wenn daraus ein psychischer und körperlicher Leidenszustand entsteht.
Wichtiger Hinweis: Diese Seite dient allen Interessierten zur Information und kann keinesfalls ein ärztliches oder therapeutisches Gespräch ersetzen. Bitte beachten Sie, dass ich Wissenschaftler und Lehrender bin und keine Behandlung anbiete!
Ursachen und Hintergründe
In vielen Fällen von Orthorexie sind die Betroffenen mit sich selbst und ihrem Leben nicht im Reinen oder fühlen sich innerlich unrein. Das mit der Orthorexie meist verbundene “Clean Eating” bringt ersatzweise zumindest ein körperliches im Reinen sein bzw. rein sein.
Durch das vermeintlich besonders gesunde und ethisch korrekte Essen kann das Selbstwertgefühl erhöht und ein Gefühl der Besonderheit erlangt werden. Mit der Kontrolle über das Essen glauben die Betroffenen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Die exzessive Beschäftigung mit der Ernährung hilft den Betroffenen außerdem, unerwünschte oder schmerzhafte Gefühle zu verdrängen.
Meist werden aggressive Gefühle verdrängt, denn Aggression wird als zerstörend erlebt mit der Befürchtung, die Zuwendung anderer Menschen und die soziale Anerkennung zu verlieren. In der Folge fehlt es an der Aggression, wirklich selbstbestimmt zu leben.
Die Fixierung auf eine gesunde Ernährung ist häufig auch der Versuch, eine zugrunde liegende schwerere Essstörung zu bewältigen. Betroffene einer schweren Essstörung verstehen die übertriebene Ausrichtung auf gesundes Essen oft als Ausstieg oder gar als Heilung von der Anorexie oder Bulimie. Die Orthorexie kann andererseits auch zum Einstieg in die Anorexia nervosa führen.
Diagnosemerkmale
Fast alle Menschen haben Lebensphasen, in denen sie sich intensiv und vertieft mit ihren Ernährungsgewohnheiten befassen und in der Folge eine Diät oder Fastenkur machen oder die Ernährung generell umstellen. In den wenigsten Fällen hat diese intensive Auseinandersetzung mit Nahrung und Körperidealen etwas mit einer Orthorexie oder Essstörung zu tun, sondern dient der Aufrechterhaltung von Gesundheit und Wohlbefinden.
Von einer Orthorexie bzw. Essstörung kann ausgegangen werden, wenn:
- die eingeschränkte Aufnahme an Nahrungsmitteln über einen ungewöhnlich langen Zeitraum andauert,
- die Gedanken ständig um das Essen kreisen,
- bei Abweichung vom Ernährungsplan quälende Schuldgefühle und Selbstvorwürfe auftreten, die im Allgemeinen mit einer noch strengeren Limitierung der Nahrungsaufnahme oder sehr viel Sport ausgeglichen werden,
- das problematische Essverhalten und die rigide Beschäftigung mit der Ernährung sich zunehmend negativ auf das Sozialleben auswirkt.
Beim letzten Punkt zum Sozialleben sind die echten zwischenmenschlichen Beziehungen gemeint. Betroffene einer Essstörung weichen oft auf soziale Medien aus und meinen, dass damit ihr Sozialleben intakt sei. Meist handelt es sich dabei um Internetforen, wo sich die Betroffenen zwar austauschen können und verstanden fühlen, aber im Allgemeinen noch tiefer in die Problematik der Essstörung hineingezogen werden.
Zu beobachten ist manchmal auch eine gefühlte moralische Überlegenheit gegenüber Menschen, die sich vermeintlich unethisch ernähren. Der daraus folgende Missionierungseifer kann soziale Bindungen beeinträchtigen.
Die Orthorexie wird in den Diagnosemanuals ICD-10 und DSM-5 nicht als eigene Störung erfasst, aber dieses auffällig zwanghafte Ernährungsverhalten kann meist in Zusammenhang mit Anorexia nervosa beobachtet werden. Sollte schon eine anorektische oder bulimische Krankheitsphase aufgetreten sein, ist die exzessive Beschäftigung mit gesundem Essen fast immer als akute Essstörung zu betrachten.
Abzugrenzen ist die Orthorexie von ernährungsmedizinischen oder diätologischen Maßnahmen aus gesundheitlichen Gründen, bei denen über einen längeren Zeitraum eine besondere Aufmerksamkeit einer speziellen Ernährungsform gewidmet wird, z.B. bei Herz-Kreislaufproblemen, Diabetes, Hautproblemen, hormonellen Störungen oder Nahrungsunverträglichkeiten.
Psychotherapie
Die psychotherapeutische Behandlung der Orthorexie orientiert sich an der Behandlung einer Anorexia nervosa. Im Vergleich zur Anorexie und Bulimie sind psychischer Leidensdruck und körperliche Beeinträchtigungen im Allgemeinen geringer. Deshalb besteht leichter die Gefahr, dass die Betroffenen bei Therapiekrisen die Psychotherapie abbrechen und z.B. eine Ernährungstherapie vorziehen.
Eine fachlich-kompetent durchgeführte diätologische Begleitung umfasst zwar Maßnahmen zur Sicherstellung der Versorgung mit allen wichtigen Nährstoffen und leistet ingesamt einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung und Verbesserung der Gesundheit. Allerdings fehlt die professionelle Bearbeitung der zugrunde liegenden psychischen Problematik. Deshalb sind Diätologen angehalten, ihren Klienten eine Psychotherapie oder klinisch-psychologische Behandlung nahezulegen, wenn es Hinweise auf eine seelische Problematik gibt.
Hilfreiche Links
- Blogartikel “Essstörungen: Erkenntnisse der Psychotherapieforschung”.
- Blogartikel “Psychotherapie, Methoden, Kosten, Psychotherapeutensuche”.
- Umfassende Infos zu Essstörungen für Betroffene und Angehörige, BZgA Deutschland
- intakt – Therapiezentrum für Menschen mit Essstörungen in 1090 Wien.
- sowhat – Institut für Menschen mit Essstörungen in Wien, Mödling und St. Pölten.
- FEM – Gesundheitszentrum für Frauen, Eltern und Mädchen in der Semmelweis-Frauenklinik in Wien.