Schüchternheit und Selbstunsicherheit
Was tun bei ängstlich-vermeidendem Sozial- und Beziehungsverhalten?
Je nach Veranlagung und Prägung unterscheiden sich Menschen in ihrem Sozial- und Beziehungsverhalten. Auf der einen Seite der Skala sind die schüchternen, ängstlich-vermeidenden, introvertierten, kontaktscheuen Menschen, auf der andern Seite die draufgängerischen, extrovertierten, kontaktfreudigen Menschen.
Die meisten Menschen befinden sich eher in der Mitte und haben je nach Lebensbereich sowohl introvertierte, schüchterne als auch extrovertierte, draufgängerische Persönlichkeitsanteile.
Schüchternheit kann also nicht automatisch mit einem Selbstwertdefizit oder gestörten Sozial- und Beziehungsverhalten assoziiert werden. Allerdings kann eine übermäßige Selbstunsicherheit, Schüchternheit und Ängstlichkeit auf Probleme und Defizite in der Persönlichkeitsentwicklung, Kompetenzentwicklung und Potentialentfaltung hinweisen.
Defizite in der Kompetenzentwicklung und Potentialentfaltung können sich beträchtlich auf das Selbstvertrauen auswirken. Insbesondere wenn die erforderlichen akademischen und personalen Basiskompetenzen nicht ausreichend entwickelt sind, kommt es in Ausbildung und Beruf häufig zu Problemen und Unsicherheiten. Durch diese Rückschläge und Missererfolge kann ein regelrechter Negativkreislauf mit zunehmenden Selbstzweifeln entstehen. Hier reicht aber meist schon eine gezielte Unterstützung bei der Kompetenzentwicklung und Potentialentfaltung im Rahmen von Fortbildungen und Förderangeboten oder mithilfe des entsprechenden Coachings.
Zur sicheren Bewältigung schwieriger kommunikativer Situationen und für einen besseren Umgang mit der Redeangst beim Präsentieren, bietet sich die professionell angeleitete Weiterentwicklung der Kommunikationskompetenz im Rahmen eines Kommunikationstrainings an.
Liegt die Ursache der Selbstunsicherheit, Schüchternheit und Ängstlichkeit hingegen in der kindlichen Entwicklung, braucht es für die Bearbeitung der zugrunde liegenden Problematik eine Psychotherapie oder klinisch-psychologische Behandlung.
Zu unterscheiden ist dabei zwischen Bindungsangst und Sozialphobie. Betroffene einer sozialen Phobie verhalten sich ängstlich-vermeidend hinsichtlich bestimmter Situationen der sozialen Interaktion, während Betroffene einer Bindungsproblematik ängstlich-vermeidend hinsichtlich zwischenmenschlicher Beziehungen sind.
Der sozialen Angst habe ich einen eigenen Artikel gewidmet. Im vorliegenden Artikel geht es vor allem um die Bindungsproblematik der selbstunsicheren Persönlichkeit.
Kennzeichen einer Bindungsproblematik
Für Bindungsängste kann synonym auch der Begriff der ängstlich-vermeidenden (selbstunsicheren) Persönlichkeitsstörung verwendet werden. Dieser diagnostische Begriff beschreibt das ängstliche, selbstunsichere und vermeidenden Verhalten in Beziehungen treffend. Der Hintergrund der Problematik wird allerdings eher mit den Begriffen Bindungsangst und Bindungskonflikt beschrieben.
Generell ist eine leicht depressive Grundhaltung zu beobachten, die vor allem von Minderwertigkeitsgefühlen, Besorgtheit, Anspannung und Einsamkeit geprägt ist. Viele Betroffene fühlen sich unbeholfen, gehemmt und unattraktiv. Sie kommen schnell in Verlegenheit und erröten leicht. Risiken alltäglicher Situationen werden überbewertet, wodurch es oft zur Vermeidung bestimmter Aktivitäten kommt.
Auffällig ist der Widerspruch zwischen beständiger Sehnsucht nach Nähe, Zuneigung und Akzeptanz einerseits und der großen Angst vor Enttäuschungen und Zurückweisungen andererseits. In der Folge vermeiden sie es, Kontakt aufzunehmen und sich auf neue Beziehungen einzulassen. Dadurch bleiben die Betroffenen oft längere Zeit ohne Liebesbeziehung.
Wenn sich doch eine Beziehung ergibt, dann wird nicht selten das Beziehungsende selbst provoziert. Weil diese vermeidende Beziehungsdynamik unbewusst erfolgt, wird die negative Haltung zu Beziehungen bestätigt.
Von den anderen Menschen werden die Betroffenen meist als nett und sensibel empfunden, weil sie zurückhaltend-bescheiden sind und sich bei Konflikten eher um Ausgleich bemühen. Aufgrund ihrer selbstkritischen Haltung können Betroffene von Selbstunsicherheit leichter persönliche Einstellungen revidieren, sobald sie Widersprüche wahrnehmen. Außerdem ermöglicht ihnen ihre soziale Distanz eine objektive und kritische Betrachtung gesellschaftlicher Zustände und Entwicklungen.
Ursachen einer Bindungsproblematik
Meist entsteht die Bindungsangst in den ersten vier Lebensjahren und sitzt deshalb sehr tief in der Seele der Betroffenen. Als maßgebliche Ursache wird eine frühe Kindheit vermutet, in der die primäre Bezugsperson überfordert oder depressiv war und dadurch das kleine Kind keine sichere Bindung entwickeln konnte.
Behandlung
Eine Bindungsproblematik kann mit Psychotherapie gut behandelt werden. In den meisten Fällen ist allerings eine längere Psychotherapie erforderlich und im therapeutischen Prozess sind spezifische Behandlungsfaktoren zu beachten. Entscheidend für den Behandlungserfolg sind 1) eine stimmige therapeutische Beziehung und 2) das Dranbleiben an der Therapie bei den praktisch immer auftretenden Therapiekrisen.